Geschichte
Joseph A. Schumpeter in Graz
Joseph Schumpeter (1883-1950) wurde "Zufolge Allerhöchster Entschließung" vom 30. Oktober 1911 zum Ordinarius für Politische Ökonomie an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität zu Graz ernannt.
Schumpeters Grazer Periode, die, mit Unterbrechungen, formell bis 1922 währen sollte, de facto aber im Jahre 1918 endete, stand im Zeichen intensiver Lehr- und Forschungstätigkeit. Dazu kommt, dass Schumpeter im Studienjahr 1916/17 das Amt des Dekans bekleidete.
Als einzigem Ordinarius auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre oblag Schumpeter die Absolvierung eines umfangreichen Lehrpensums: Neben den regelmäßig abgehaltenen Vorlesungen aus "Volkswirtschaftslehre", "Volkswirtschaftspolitik" und "Finanzwissenschaft" (im Ausmaß von jeweils fünf Semesterwochenstunden) bot er Spezialkollegs wie "Politische Ökonomie" und "Wirtschaftliche Demokratie" an. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität wirkte Schumpeter darüber hinaus als Honorardozent für Politische Ökonomie an der vormaligen Technischen Hochschule.
Da Schumpeters theoretisches Hauptwerk, die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, im Herbst 1911 (das Impressum nennt 1912 als Erscheinungsjahr) erschienen ist, lässt sich ein Zusammenhang mit dem genius loci beim besten Willen nicht nachweisen. Gleichwohl hat Schumpeter in den Grazer Jahren eine Reihe seiner wichtigsten Arbeiten vorgelegt. Hier sind insbesondere zu erwähnen:
Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte (1914), ein für Max Webers Grundriß der Sozialökonomik verfasstes Kleinod der Theoriegeschichtsschreibung, das die posthum erschienene History of Economic Analysis in nuce erkennen lässt;
Die Krise des Steuerstaates (1918 bei Leuschner & Lubensky verlegt), ein Klassiker der Finanzsoziologie; sowie die Aufsätze: "Das Grundprinzip der Verteilungstheorie" (1916), "Das Sozialprodukt und die Rechenpfennige" (1917) und "Zur Soziologie der Imperialismen" (1919).
Das Studienjahr 1913/14 verbrachte Schumpeter als österreichischer Austauschprofessor an der Columbia University in New York, von der er auch - im Alter von 30 Jahren! - mit einem Ehrendoktorat ausgezeichnet wurde.
Es scheint, dass Schumpeters praktisch-politische Ambitionen während des Ersten Weltkriegs geschürt wurden. In diesem Sinne verfasste er in den Jahren 1916/17 mehrere, im privaten Kreis zirkulierende Memoranden, in denen er u.a. gegen den Abschluss eines Zollbündnisses bzw. einer Zollunion mit dem Deutschen Reich zu Felde zog und in denen er eintrat für die Sache der Separatfriedensbewegung.
Schumpeter gehörte der von der Berliner Regierung nach Ausrufung der Republik eingesetzten "Sozialisierungskommission" als Berater an, bevor er im März 1919 in einem von Staatskanzler Renner geführten sozialdemokratisch-christlichsozialen Kabinett als Parteiunabhängiger zum Staatssekretär für Finanzen der Republik Deutschösterreich bestellt wurde. Nach siebenmonatiger Amtstätigkeit demissionierte Schumpeter, nicht zuletzt wegen unüberbrückbarer Differenzen in der "Anschlussfrage".
1921 übernahm er die Leitung der Biedermann-Bank in Wien, die wenige Jahre später mit für Schumpeter empfindlichen finanziellen Einbußen in Konkurs gehen sollte. 1925 kehrte Schumpeter zurück in das akademische Leben und folgte einem Ruf nach Bonn als Ordinarius für Finanzwissenschaft. Und schließlich wurde Schumpeter 1932 an die renommierte Harvard University berufen.
Text: Stephan Böhm